Die Kanzel der Wiesenkirche

Die Steinkanzel wurde durch eine Spende finanziert und vom Dombaumeister entworfen und geschaffen, die Gemeinde konnte sie im Epiphanias-Lichtergottesdienst mit Präses Annette Kurschus am 06. Januar 2013 in Dienst nehmen.

Jürgen Prigl

Die Steinkanzel steht wie ein vormaliges Sperrholzprovisorium an der Grenze der Kirchenhalle vor dem südlichen Chorpfeiler. Sie ist gegliedert in einen unteren Bereich, den Stamm, und einen oberen, die Krone genannt, in welche man aus dem Hauptchor über das siebenstufige Treppenelement hinein gelangt. Der Stamm entsteht aus der Form eines Kreises. Das geometrische Grundgebilde ist ein Ursymbol: Es hat weder Anfang noch Ende; es ist vollkommen. Der Mittelpunkt des Ausgangskreises gründet unter der Bodenoberfläche und ist Beginn eines lotrechten Fahrstrahls als Stammachse der Kanzel. Die Stelle, an welcher der Stamm in die sichtbare Welt tritt, umfasst ein Feuerring, gegossen aus Eisen und vergoldet in der Farbe Gottes. Dies suggeriert: „Sei vorsichtig und behutsam, es ist ein besonderer Ort.“ Nicht sichtbar also im Ursprung und im Geist ausgehend von „Im Anfang war das Wort …“ zeigt die Kanzel im Verlauf Mitteilungen Gottes hin zu „… und das Wort ist und wirkt“.

Aus dem kreisrunden Stamm erwächst im vertikalen Zug ein Zehneck: Gott erteilt seine Gebote, zehn an der Zahl, so viele wie der Mensch Finger hat, so viele Mondmonate wie vergehen von der Zeugung bis zur Geburt. Das Zehneck weitet sich in die Horizontale und bildet aus dem Stamm die Basis der Krone. Mit erneuter Umlenkung in den Ecken entstehen und teilen sich Linien, werden mehr und laufen wechselnd wellenförmig. Das will markieren: Gott entfaltet im eingeborenen Sohn Mensch werdend eine Dreieinigkeit. Ein Band wächst als dreizonige Gliederkette heraus und umfasst das Oberteil wie einen Kelch, der sich hier nun öffnet. Auf dem Grund der inneren Öffnung des massiven Steinblocks steht der Prediger. Grundelement der Glieder des Bandes ist das Quadrat, als Symbol für menschliches Leben auf der Erde: vier Himmelsrichtungen, Tages-, Jahreszeiten, Lebensphasen etc. Durch die zweifache Ausformung der Quadrate erscheinen die Kreuzungspunkte dieses Bandes je nach Standpunkt und Lichtstellung verbindend und/oder scheidend.

 

Wie das Band aus dem Kreis schwellt, so taucht es wieder zurück. Damit werden Stege und Kanneluren ausgebildet. Gestalterisch kommunizieren diese im Raum mit den Profilzügen der Pfeiler, Dienste und Fensterlaibungen. Außen und innen, positiv und negativ wechseln sich permanent ab und bedingen einander. Dies weist auf Relationen hin, denen das Erscheinen Christi zu einer neuen Wahrnehmung verhalf: Licht und Finsternis, gut und böse, arm und reich, Geburt und Tod, Reflexion und Unbewusstheit, Krankheit und Gesundheit, Mehren und Teilen, Freud und Leid, oben und unten, links und rechts, groß und klein, da und weg.

Durch die parallelen Stege transportieren goldene Feuerzungen das Licht aus dem Stein in den Kelchrand der Krone. Dort wölbt sich die Materie aus, Wind weht durch Windungen. Außen und innen geraten in Bewegung. Der Geist weht, wo er will. Nicht Vakuum, Luftströme sind Träger von Laut und Klang. Phänomene der Globalisierung wie Informationsexplosion, Vereinzelung, Massenidentität oder Sprachvermischung sind assoziiert. Der Kranz gleicht einem Windspiel, das sich multiplizierende Kommunikationsformen impliziert.

Zugang der Religionen untereinander entsteht durch Offenheit mit Tiefgang ohne Auflösung. Das meint etwa, von der Substanz sich eher geprägt als reglementiert zu verstehen. Ohne durch Geist gebildetes Wort, ohne die Sprachen, wäre keine Form von Religion erfolgt und nicht kleinstes menschliches Bewusstsein kultiviert. Zeichen und Buchstaben können das Wort nicht fassen. Und das Hören erscheint mindestens so wichtig wie das Sprechen. Das Lauschen, auch in die Stille, nachdem das Tönen verklungen; das Zuhören vor allem: Das ist Hinwendung. Gibt es gleich viele Arten des Hörens wie des Sprechens? Wie wichtig ist zum Beispiel für das Leben eines Menschen sein Nachhören, wenn er sich, etwa im Stillen oder in Gefahr, an etwas erinnert.

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